Eine kleine Huldigung an eine große Kompositionstechnik: Resynthese

Was Stockhausen schon 1955 getan hat, klingt immer noch frisch, wenn Clara Iannotta es heute tut. Seit dem Spektralismus wissen wir, dass ganze Spektren nach Belieben zusammengesetzt werden können. Wird diese Fähigkeit gezielt genutzt um Klänge weiterzuentwickeln, sind wir bei der Resynthese.

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Resynthese als Form der Imitation

Karlheinz Stockhausen hat diese Kompositionstechnik bereits 1955 in seinem "Gesang der Jünglinge" angewandt, und doch wirkt sie noch neu und frisch in heutigen Uraufführungen. Die Technik, die seit über 60 Jahren nicht an Aktualität verloren hat, ist die Resynthese. Anders als die (Klang-) Synthese, also die Methode zur Herstellung künstlicher Klänge, versucht die Resynthese einen schon bestehenden Klang nachzubilden, ihn also zu imitieren. Resynthese ist also eine Form der Imitation. Das Prinzip ist simpel: Man nimmt einen Ursprungsklang, der von einer Ursprungsklangquelle ausgeht, bildet ihn mit einer anderen Klangquelle nach und führt ihn dann in einer Weise weiter, wie es der Ursprungsklangquelle nicht möglich gewesen wäre. Dies ermöglicht eine kreative Weiterentwicklung des Klangs, die über die Fähigkeiten der ursprünglichen Quelle hinausgeht. 

Beispiele von Messiaen bis heute

Auch wenn man bei Resynthese gleich an Computer denkt, ist sie nur Imitation und kann von klassischen Instrumenten ausgeübt werden. Olivier Messiaen wählte Vogelgesang als Ursprungsklang, transkribierte ihn, und entwickelte sein Stück von dort aus weiter.

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Messiaen : Abîme des oiseaux n°3, extrait du Quatuor pour la fin du temps

In Stockhausens schon erwähntem Stück “Gesang der Jünglinge” wird eine Knabenstimme von Sinusgeneratoren resynthetisiert. 

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Karlheinz Stockhausen - Gesang Der Jünglinge ("Song of the Youths")

In “Monolit B” von Andrés Gutiérrez Martínez imitieren sich Bassklarinette und Kontrabass gegenseitig und beeindrucken durch die starke Verwechselbarkeit.

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Monolito B for Bass Clarinet, Double Bass, and Piano by Andrés Gutiérrez Martínez

Und Clara Iannotta hat die Resynthese mit “where the dark earth bends” auf die Spitze getrieben. Als Ursprungsklang wählte sie die wiederholte Audiosignal-Raum-Aufnahme eines anderen Klanges, ganz nach dem Vorbild von Alvin Lucier. 

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Alvin Lucier - I Am Sitting In A Room

Mit Liebe zum Detail, exakter Frequenzhöhenbestimmung und dem Erfinden neuer Instrumente schuf Clara Iannota ein Werk, das der Huldigung dieser Kompositionstechnik nicht besser entsprechen könnte.

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HKO Screen - Clara Iannotta: where the dark earth bends

Was einer gelungenen Resynthese immer vorausgeht, ist die Analyse.

Analyse eines Klangs: Spektralismus als Vorstufe der Resynthese

Analysiert man einen Klang, betrachtet man am besten sein Frequenzspektrum. Ein Beispiel für ein  Frequenzspektrum, also die Tonänderung über die Zeit, ist im Titelbild zu sehen. Jeder Klang, jedes Rauschen, jedes Geräusch kann aus einer Summe von Sinustönen mit unterschiedlicher Amplitude zusammengesetzt werden. Die Erkenntnis, dass harmonische Klänge aus Grundton und dessen Vielfachen bestehen, führte mit Gerard Grisey zum Spektralismus. Bis heute werden in Konzertsälen Klänge aus Teiltönen mit zufälliger Amplitude kombiniert, indem versucht wird, die exakten Frequenzen zu treffen. 

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James Tenney - Harmonium #1 (1976)

Das ist zweifellos beeindruckend, insbesondere da diese Frequenzen nicht mit den im Notensystem vorkommenden Noten übereinstimmen. Der Spektralismus hat also gezeigt, dass es möglich ist, ein Frequenzspektrum zu synthetisieren. Er ist eine Methode der Klangsynthese und somit eine Vorstufe zur Resynthese. Die Resynthese geht einen Schritt weiter. Der Hauptgrund, weshalb ein a der Violine anders klingt als das a einer Flöte, liegt in den Amplituden der Obertöne.  Die Amplituden sind keine Zufälle; sie imitieren einen Ursprungsklang. Wo das Bestimmen dieser einzelnen Amplituden bei Stockhausen noch sehr aufwändig war, hatte es Clara Iannotta mit den heutigen zur Verfügung stehenden Mitteln etwas leichter. Sie nutzte ein Software-Tool zur Visualisierung des Frequenzspektrums, suchte dort nach den dominanten Frequenzen und führte eine akribische Analyse durch. Während solche technischen Neuerungen eine Hilfe für den Analyseteil der Kompositionstechnik darstellen, sollten Software-Tools für die Resynthese mit Vorsicht behandelt werden.

Resynthese: Die Wichtigkeit der Erhaltung des Freiheitsgrades

Dass sich Imitation und Resynthese bis heute frisch gehalten haben, liegt sicher auch daran, dass sie einen unheimlich großen Freiraum für kreatives Schaffen lassen. Während bei “Monolit B” Analyse und Resynthese in der intuitiven Imitation eine enge Symbiose bilden, waren es bei “Gesang der Jünglinge” klar abgegrenzte Schritte. Von der Auswahl der Stimmlaute über deren Analyse und hin zum Hinzufügen jedes einzelnen Obertons, was durch die geringe Anzahl von Sinusgeneratoren notwendig war, ließ jeder Schritt einen großen Freiheitsgrad an Kreativität. Wäre die Orchestrierung von “where the dark earth bends” von einer Software wie dem 2022 erschienenen “Orchidea” gemacht worden, so wäre es nicht dasselbe Stück. Niemals wird eine Software in die Partitur schreiben, die Streicher sollen Styropor streichen, wenn die Idee vorher noch keiner gehabt hat. Die enge Zusammenarbeit mit den Bläsern und gemeinsame Entwicklung des Stücks wäre verloren gegangen. Ganz zu schweigen von der Emotionalität, dem Fragilen und der Spannung.

Technologischer Fortschritt hat bereits einige Kompositionstechniken begraben, indem er einfache Reproduktion ermöglichte und somit zur Langeweile führte, wie etwa bei der Granularsynthese. Doch bei dieser Kompositionstechnik ist das noch nicht der Fall. Wenn man neue Technologien gezielt einsetzt, dabei aber genug Freiraum lässt, um kreativ einzugreifen, liegt in dieser Kompositionstechnik noch ein enormes Potenzial.

Das Potential von Technologien

In der modellbasierten Signalverarbeitung gibt es viele Algorithmen, die sich für die Resynthese hervorragend eignen. Wichtig ist hier der Begriff “modellbasiert”. Das bedeutet, es gibt ein theoretisches Modell, zum Beispiel das physikalische Modell der Violine. Das Modell hat viele Parameter, die alle eine Bedeutung haben. Wenn man sie verändert, kann man sich gewisse Ergebnisse erwarten. Zum Beispiel stellt man die Länge einer Saite um, und die Tonhöhe ändert sich. Für das Stück “Lux Aeterna Unlimited” habe ich einen Algorithmus aus der Sprachsignalverarbeitung verwendet. Analysiert der Algorithmus damit eine Singstimme, ist man anschließend im Besitz intuitiver Parameter wie Tonhöhe und Amplituden der Obertöne. Unter optimalen Bedingungen sind die resynthetisierten Klänge von den originalen nicht zu unterscheiden. Das bedeutet, dass man den Ursprungsklang perfekt nachbilden kann und nun die Parameter in der Hand hat, um den Klang nach Belieben zu formen. Stimmen entwickeln sich weiter zu Klängen, die der Mensch allein nicht erzeugen kann. 

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Lux Aeterna Unlimited by Anna Maly

Bei der Nutzung des Quelle-Filter-Modells für die Resynthese der Stimme kommt man in den getrennten Besitz von Quelle (Grundtonfrequenz und Obertonfrequenzen) und Filter ( Reduzierungsgrad der Frequenzen über das Spektrum). Nun kann die Quelle einfach durch andere Klänge und Geräusche ersetzt werden, wie man im Stück “Dies Irae” hören kann.

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Dies Irae by Anna Maly

Ausblick: Klangformung und Komposition

Wir stehen erst am Anfang der Entfaltung solcher Algorithmen. Man stelle sich vor, was möglich wäre, wenn ein Lautsprecher ein Instrument imitieren könnte und die Vorteile kammermusikalischer, zeitgenössischer Komposition mit den Möglichkeiten der Signalverarbeitung verschmelzen würden. Es darf noch einiges erwartet werden.

Anna Maly

Anna Maly

Anna Maly studierte Elektrotechnik-Tontechnik und Computermusik und Klangkunst an der KUG und arbeitet in der angewandten Forschung für akustische Signalverarbeitung. Ihre Erfahrungen in der Sprachsignalverarbeitung lässt sie nun in ihre Musik einfließen. Ihr Stück "Dies Irae" gewann den dritten Platz beim studentischen 3D-Audio-Produktionswettbewerb, und für "Morphomy No. 2" erhielt sie eine lobende Erwähnung auf der ISAC in Pesaro. Ihre 3D-Audiostücke für Kopfhörer und mehr unter annamaly.mur.at.

Originalsprache: Deutsch
Artikelübersetzungen erfolgen maschinell und redigiert.

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