Palaeofuturismus

Ich stelle ein größeres Narrativ von Projekten vor, das aus der Perspektive eines heutigen kreativen Musikschaffenden entstanden ist. Vor allem unterschiedliche Bass-Instrumente bilden dabei einen Ausgangspunkt für Erkundungen einer spektralen Vielfalt taktiler Herangehensweisen, geleitet von der Idee ökologischen Denkens im spätindustriellen Zeitalter.

John Eckhardt Profilfoto John Eckhardt
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Ökologische Musik

Parallel zur Arbeit in der neuen komponierten, improvisierten und in der elektronischen Musik habe ich mich immer intensiver mit den Wurzeln meiner Familie im weitläufigen Waldland des schwedischen Bergslagen beschäftigt. Vor allem dort hat mich die Erkundung möglicher Beziehungen zwischen den Künsten und der nicht-menschlichen Welt immer weiter in ihren Bann gezogen – eine Quelle bleibender Inspiration, deren ethische und politische Bedeutung zunimmt, während sie gleichzeitig eine Brücke schlägt zu prähistorischer und nicht-europäischer Kunst.

Zukunft, Innovation, Technologie

Fragen unserer Zukunft und danach, welche Art von Innovationen uns helfen werden, sind auf interessante, neuartige Weise mit unserer Vergangenheit verbunden. Wir sehen uns zunehmend Mangel, Elementarkräften und Gewalt ausgesetzt, ähnlich unseren prähistorischen Vorfahren, die die Grundlagen der Zivilisation gelegt haben, indem sie den sesshaften einem nomadischen Lebenswandel vorzogen. Die im wesentlichen europäische Weltanschauung, mit der ich aufgewachsen bin, hat ihre Wurzeln in der mechanistischen Revolution des 17. Jahrhunderts und priorisiert individuelle Selbstverwirklichung und Wachstumskonzepte. Unsere Vorstellungen vom Künstlerberuf, die auch in den Musikerkörper und -geist hineinwirken, lassen sich kaum von diesen kulturellen Paradigmen trennen.

Problemen mit der Produktion von neuen, besseren und großartigeren Sachen zu begegnen, wird wahrscheinlich ein interessanter Teil unserer Zukunft bleiben. Aber dies ist keineswegs immer eine progressive Option, wenn sie tieferliegende Muster unserer Krise wiederholt und verstärkt. Denn obwohl wir über alle nötigen Mittel verfügen, hält uns etwas in unseren Köpfen davon ab, zukunftsfähig zu handeln. Ein Wesenszug unserer kulturell und evolutionär geprägten Art der Wahrnehmung und Entscheidungsfindung scheint ein unzureichender Sinn für die Reichweite wechselseitiger Abhängigkeiten mit Umwelten zu sein.

Lebendigkeit durch Neugier

Ein anderes Paradigma könnte auf der Entwicklung eines flexiblen Repertoires aufbauen, „dem, was wir noch nicht verstehen“, direkt vor uns und um uns herum in einer Lebendigkeit vermehrenden Weise zu begegnen. Zentral ist dabei die Praxis einer weitreichenderen und archetypischen Neugier, die zunächst nicht zwischen „belebt“ und „unbelebt“ unterscheidet. Sie richtet sich vor allem auf Phänomene der Evolution, bezieht Stellung zu spätkapitalistischen Schwebezuständen oder nimmt Teil an der Rückverwilderung der Ruinen, die wir hinterlassen.

Die damit verbundene Selbst-Dekolonisation, Aussöhnung (z.B. durch Lernen aus Fehlern der Vergangenheit) und künstlerische Forschung eröffnet einen weiten und omnidirektionalen Raum der Möglichkeiten, der eine attraktive Herausforderung für zeitgenössische Künstler darstellt.

Neo-Animismus & Globalismus

Mehr denn je unterstützen uns Kultur und Technik dabei, unsere Verwobenheit mit einer Welt bodenloser Komplexität zu begreifen, während wir unsichtbaren Partikeln und dunkler Materie hinterherjagen oder das Mikrobiom und das kollektive Unbewusste entschlüsseln – eine Bewegung hin zum Animismus, der auch unsere Vorstellungen vom im 20. Jahrhundert gipfelnden Individualismus untergräbt. In den Vordergrund drängen sich globale Fragestellungen, die kulturelle Präkonditionierungen transzendieren und uns dazu auffordern, unseren Platz und unsere Rolle neu zu denken. Hierbei werden uns stärkere Teleskope und Mikroskope nicht wirklich weiterhelfen.

Können wir eine affirmativere Resonanz mit unserer Umgebung neu lernen? Wie gehen wir mit unserer Horden- und Lagermentalität um? Können Neugier, Lernen und Innovation (und mit ihnen Individualismus und Selbstverwirklichung) überleben, indem sie einen anderen Blickwinkel einnehmen, der Lebendigkeit besser unterstützt? Was sind die Grundzüge einer Geisteshaltung, die nicht nach einer Zähmung, sondern nach einer Integration von Ambiguität und Komplexität als etwas Vitalem und Schöpferischem strebt? Und wie könnte ein zeitgenössisches Musikersein aussehen, das sich solchen Fragen widmet und dabei jegliche kulturelle Prägung, Geschichte und Werkzeuge zulässt?

Jäger und Sammler 2.0

Es müsste eine Art Jäger und Sammler 2.0 sein – ein wandernder Geschichtenerzähler, der sich durch eine Polyphonie von Zeitzonen bewegt zwischen dem Morgen und einer Vergangenheit, die zu weit zurückliegt, um sich an sie zu erinnern; und durch eine physische Realität, die zuallererst ein dschungelartiger Ausdruck eines oftmals verborgenen Kräftespiels ist. Dabei wird ein umfassenderer Prozess der organischen Verzweigung in Gang gesetzt, der künstlerische Herangehensweisen, Projekte, Veröffentlichungen und auch das tägliche Leben überwuchert.

Mit eher einfachen, jedoch immer neuen experimentellen Anordnungen weicht ein solcher Künstler tänzelnd den homogenisierenden Kräften der Domestikation und des Dualismus aus. Ein besonders waches Zusammenspiel von Beobachtung und Aktion mündet in eine zeitlose poetische Trance, die die letztendliche Heterogenität und Prekarität des Lebens und von uns selbst heute und in der Zukunft in sich aufzunehmen vermag.

Hingebungsvolle Nomaden kümmern sich wenig um Linearität oder um die Vermehrung von Macht, Territorium und Kapital, sondern gedeihen dank ihrer Mitwirkung in einem vitalen Ökosystem. Dieses wird am Leben erhalten durch die Interaktionen mit der umliegenden Landschaft der Dinge, Menschen (inklusive der Künstlerin) und Vibrationen sowie durch eine menschliche Musikpraxis, die in ihrer Zeit und Umwelt auf einer umfassenderen geographischen und historischen Skala neue Beziehungen herstellt.

Mehr Info, Projekte & Media: www.johneckhardt.de

John Eckhardt beim ORF musikprotokoll 2022

John Eckhardt

Wie ein zeitgenössischer Jäger und Sammler aller Dinge, die mit dem Bass zu tun haben, ist John Eckhardt ständig an der Entstehung der heutigen Musik beteiligt. Als Kontrabass-Solist, in zahlreichen Ensembles, Bands und eigenen Projekten, an der Bassgitarre oder als DJ entfaltet er einen tieffrequenten Kosmos von ungewöhnlichen Dimensionen. Er hat auf 40 Tonträgern mitgewirkt, gerade sein 5. Soloalbum sowie seinen 30. Podcast veröffentlicht, fotografiert viel und hat kürzlich eine Reihe von speziellen Bass-Sound-Installationen geschaffen.

Artikel von John Eckhardt
Originalsprache: Deutsch
Artikelübersetzungen erfolgen maschinell und redigiert.

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