Das Sichtbare und das Verborgene

Können sichtbare Elemente die Wahrnehmung unsichtbarer Klänge verändern? Dieser Artikel beleuchtet die Arbeiten von Estelle Schorpp und Ji Youn Kang, die die Grenzen der musikalischen Wahrnehmung neu ausloten, indem sie mit dem Sichtbaren und Unsichtbaren in der Musik spielen.

Leonie Strecker Leonie Strecker
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In der Aufführung von Musik können verschiedene Elemente die Wahrnehmung des anwesenden Publikums prägen. Zunächst steht natürlich der Klang im Mittelpunkt, im Fokus der Aufmerksamkeit. Die Wahrnehmung wird aber auch wesentlich von Fragen der körperlichen, räumlichen, materiellen und zeitlichen Umstände geprägt. Mit welchen Mitteln wird der Klang erzeugt? Wer ist die Person, die den Klang erzeugt? Welche Bedeutung hat diese spezifische Interaktion zwischen Menschen und Objekten? Wer handelt, trifft Entscheidungen, und wie werden diese Entscheidungen ausgeführt? Diese Fragen können in einer traditionellen Konzertsituation leicht ignoriert werden, da jahrhundertelang geprägte Konventionen ein Hinterfragen derselben oft überflüssig erscheinen lassen. In vielen experimentellen und zeitgenössischen musikalischen Praktiken jedoch müssen diese Fragen gestellt und neu verhandelt werden. Die Aufführung von Musik, in der keine spielenden Musiker:innen anwesend sind, oder aber neu entwickelte Instrumente verwendet werden; in der der Computer als Instrument eingesetzt wird, die Quelle der Klangproduktion nicht unbedingt sichtbar ist und die Rollen von Komponist:innen und Performer:innen fließender werden, lässt dies notwendig erscheinen. In diesem Artikel möchte ich näher auf die künstlerischen Praktiken der Komponistinnen und Klangkünstlerinnen Estelle Schorpp und Ji Youn Kang eingehen, um zu versuchen, individuelle Ansätze im Spektrum dieser Fragestellungen zu beleuchten. Hierbei möchte ich zunächst nach dem Verhältnis der Wahrnehmung von sichtbaren und unsichtbaren Elementen der musikalischen Aufführung fragen.

Was ist unsichtbar? Was ist sichtbar?

Oder: Was ist anwesend? Was wird wahrgenommen? Klang selbst kann visualisiert werden, ist aber nicht sichtbar. Er ist akustisch wahrnehmbar. Es ist der Akt der Klangerzeugung, oder bestimmter Teile davon, die sichtbar sind. Sichtbar sind Körper von Instrumentalist:innen und Sänger:innen, ihre Bewegungen und ihre Berührungen, Interaktionen mit Instrumenten. Die Instrumente selbst, ihre Materialität, ihre Mechaniken. Ihre Position im Raum, die räumlichen Konstellationen und Verhältnisse, Licht, das räumliche Verhältnis zum Publikum. Wie sehr diese einzelnen Elemente vordergründig wahrgenommen werden, ist von einer Vielzahl von Wirkungszusammenhängen abhängig. Dieses sich-in-den-Vordergrund-Schieben von einzelnen Elementen kann man als Präsenz bezeichnen. Etwas oder jemand ist anwesend, und ein besonderer Fokus liegt auf dieser Anwesenheit. Dies kann paradoxerweise auch für die Abwesenheit von einem Ding oder einem Menschen gelten, wenn von den Hörer:innen eigentlich eine Anwesenheit erwartet wird. Der Klang ist also immer eine Spur von einer Anwesenheit, das Resultat eines Ereignisses. 

In der akusmatischen Musik, in der es keine Musiker:innen oder Performer:innen auf der Bühne gibt und in der die Musik rein über Lautsprecher vermittelt wird, können Klänge ebenfalls eine Präsenz im Raum erzeugen. Hier kann zum Beispiel an die intimen Stimm-Aufnahmen in den Tape-Stücken von Luc Ferrari oder Robert Ashley gedacht werden, die klanglich eine spezifische Körperlichkeit in den Hörraum projizieren. Den Körper, zu dem die Stimme gehört, können die Hörer:innen nicht sehen. Aber der Klang der Stimme allein kann so viel über den Körper aussagen, dass eine Vorstellung von diesem entsteht. Die Lautsprecher, die den Klang vermitteln, sind in diesem Fall zwar sichtbar, aber sie treten als rein vermittelndes Medium in den Hintergrund. 

Lautsprecher sind technische Geräte, die einerseits Klang wiedergeben sollen, und die andererseits auch als Instrumente betrachtet werden können. Sie lösen den Klang aus, ihre Materialität ermöglicht das Hören, die Wahrnehmung des Klangs. Ihre materiellen Eigenschaften als Objekte und ihre spezifischen Klangfarben werden jedoch häufig ignoriert mit dem Ziel, eine vermeintlich neutrale Klangwiedergabe zu forcieren, unabhängig von seinem Abspielmedium. 

In der Aufführung von Musik mit akustischen Instrumenten verhindern oftmals eine standardisierte Aufführungspraxis und Gestaltung der Konzertsituation eine Betonung der Präsenz der Aufführenden, ihrer Instrumente und ihrer individuellen Interaktion. 

Im Folgenden möchte ich zwei aktuelle Werke von Komponistinnen betrachten, die ich persönlich sehr schätze und in deren Werk ich einen sehr individuellen Umgang in der Arbeit mit klangerzeugenden Objekten sehe, in der die Präsenz und Materialität dieser Objekte sowie die körperliche Interaktion mit diesen verhandelt werden. 

Interaktion und Manipulation

A conversation between a partially educated parrot and a machine (2023) – Estelle Schorpp | La Biennale di Venezia 2023

Auf einer ansonsten dunklen Bühne angeleuchtet steht ein Grammophon. Eine Frau tritt auf die Bühne, sie kurbelt das Grammophon. Von einer Platte abgespielt hören wir eine männliche Stimme, die, zwischendurch abbrechend, erklärt, was wir hören werden: Aufnahmen von Vögeln, die ersten, die jemals gemacht wurden. Wir hören die lateinischen Bezeichnungen und europäische Namen der Vögel, sorgsam erklärt. Rauschen. Die Vogelstimmen fliegen durch das Publikum, über mehrere Lautsprecher verteilt bewegen sie sich durch den Raum. Die Klänge sind durch ihre Abspielweise und den Alterungsprozess der Technologie verzerrt und verrauscht. Die Materialität der Platte und der Nadel, die auf ihr kratzt, ist überdeutlich. Im Laufe der Aufführung wird die Performerin und Komponistin des Stückes, Estelle Schorpp, mit der Platte auf dem mit Sensoren versehenen Grammophon interagieren, sie verschieben, den Klang so modulieren. Die verrauschten Klänge der Vogelstimmen bekommen eine neue Qualität, verändern sich, wiederholen sich, in immer anderen Abschnitten. In einem weiteren Teil wird Schorpp ihre Position auf der Bühne ändern, zu einem Ständer mit zwei Tablets gehen und über ihre Berührungen und die Klänge offensichtlicher digital manipulieren. 

Sowohl die Vögel als auch der sprechende Mann sind nicht tatsächlich anwesend, ihre Stimmen wurden vor langer Zeit aufgezeichnet. Durch ihren Klang, durch ihre Bewegung und den Erinnerungscharakter des Klanges erhalten sie eine Präsenz im Raum. Die Performerin ist tatsächlich körperlich anwesend, sie interagiert mit dem emblematischen Grammophon, diesem altertümlichen Objekt, das die aufgenommenen Klänge wiedergibt und ihnen gleichzeitig das eigene Alter und eine spezifische klangliche Identität überstülpt. Ihre Bewegungen sind präzise und bestimmt. Schorpp verfolgt merklich eine Intention, die allerdings nicht immer auf die gewöhnliche Benutzung eines Grammophons verweist. Dennoch sind die Bewegungen an der Form und Funktionsweise des Objektes orientiert und können mit der wahrgenommenen Reaktion des Klanges auf die Interaktion verbunden werden. Schorpps Interaktionen mit dem Objekt sind nicht die Bewegungen einer Instrumentalistin, die mit dem instrumentalen Klangkörper zu einer Einheit wird, sondern die einer Komponistin, die mit dem Objekt zusammen bestimmte Klänge erzeugen will. 

Teil des Instruments werden

Cross-wired Xylophone (2023)- Ji Youn Kang | Conservatoriumzaal, Amare, Den Haag

Ji Youn Kang arbeitet häufig mit selbstgebauten Instrumenten aus elektronischen Komponenten. Sie baut Schaltkreise aus analogen Bauteilen, um herauszufinden, wie diese Teile zusammen funktionieren, und wie man ihre Funktion manipulieren, untergraben kann. In ihrem Stück „Cross-wired Xylophone“ verbindet sie verschiedene solcher Schaltkreise mit den Klangstäben eines Xylophons. Dieses muss gespielt oder berührt werden, damit die Kreise geschlossen werden und Klang entsteht oder verändert werden kann. Zunächst verbindet sie die einzelnen Klangstäbe des Instrumentes über bunte Kabel mit verschiedenen Teilen der Schaltkreise. Diese liegen offen und fragil vor ihr, man sieht jedes Bauteil, auch, da alles übergroß auf die Wand hinter ihr projiziert wird, viele kleine Kabel, blinkende Lampen, deren Funktion nicht genau erkenntlich ist. Kang berührt impulshaft die Klangstäbe des Instrumentes mit dünnen, metallenen Schlägeln. Statt des erwarteten, metallisch-resonanten Klangs des Xylophons hören wir einen analog oszillierenden Klang, der nicht nachklingt, sondern bei Beendigung des Kontaktes mit den Klangstäben sofort aufhört. Ihre Bewegungen sind zunächst vorsichtig, aber bestimmt. Sie beginnt, die Schläge für rhythmische Impulse mit kontinuierlichem Kratzen auf verschiedenen Klangstäben abzuwechseln. Die Oszillationen verlangsamen und beschleunigen sich, werden moduliert, verändern ihre Geräuschanteile. Die Schlägel beiseitelegend beginnt Kang direkt mit ihren Händen die Klangstäbe zu berühren und verschiedene Klangstäbe miteinander zu verbinden. Die Erkenntnis kommt schnell: Es ist ihre Berührung, ihr Körper, der die Schaltkreise schließt, es braucht die Berührung als Brücke, um den Klang zu erzeugen. Die Elektrizität, unsichtbar und geräuschlos, braucht eine physische Verbindung und muss durch einen Körper geleitet werden. Der Körper und die Interaktion lösen also nicht nur den Klang aus, sondern ihre Masse, ihr Widerstand sind zwingend notwendig und bestimmend für die Entstehung des Klangs. Kang greift also direkt in den Klang ein mit ihrem Körper, wird Teil des Instruments, und kann so die Klänge manipulieren. Das Xylophon als Schlaginstrument erfährt eine körperliche und klangliche Erweiterung, die Interaktion der Performerin mit diesem Instrument erhält eine besondere Bedeutung. Im weiteren Verlauf des Stückes wird sie unterschiedliche Konstellationen ihrer Handbewegungen und weitere Schlägel verwenden, die über verschiedenartige Berührungen und Verbindungen die Klänge verändern. Den Schluss einleitend legt sie lose Klangstäbe eines weiteren Xylophons auf die Tasten, verbindet sie über das metallene Material, entzieht dem Instrument ihren Körper als Bestandteil. So verbunden spielt das Instrument auch alleine weiter. 

Video URL
Ji Youn Kang at The ARTEkroom

Körper und Objekte sind anwesend

… und sie sind integrale Bestandteile der Komposition und der Aufführung dieser beiden Werke. Schorpp und Kang augmentieren und manipulieren beide diese sehr spezifischen klangerzeugenden Objekte, eines ein Gerät zur Wiedergabe von Musik, das andere ein Musikinstrument, bei dem gerade durch diese Interaktion der ohnehin vorhandene Instrumentencharakter noch verstärkt wird. Die Instrumente werden verstanden als Objekte mit einer spezifischen Materialität, einer Geschichte und als Auslöser von bestimmten Erwartungen und Assoziationen, mit deren Verständnis und Erfüllung beziehungsweise Nichterfüllung gearbeitet wird. Die Komponistinnen als Performerinnen interagieren auf eine ungewöhnliche und bestimmte körperliche Art und Weise mit diesen Objekten, erzeugen und verändern Klang, der die Verbindung der Präsenz dieser Körper und Objekte formt. So bestimmt das Sichtbare die Präsenz des Verborgenen, des Unsichtbaren, des Klanges. 

Leonie Strecker

Leonie Strecker ist Komponistin und Klangkünstlerin. Sie arbeitet mit den Möglichkeiten der symbolischen und semantischen Natur des Klangs und kombiniert Live-Performance und akusmatischen Klang, um Hybride aus Konzertmusik, Performance und Installation zu schaffen. In ihren Werken, die oft mit räumlichen Audiosystemen arbeiten, ist der Einsatz der Stimme als Mittel zur Klangerzeugung sowie als Möglichkeit, Text und ein Gefühl menschlicher Präsenz einzubinden, ein zentrales Element. Streckers Werk umfasst sowohl elektroakustische Musik als auch Werke für Solisten und Ensembles. Ihre Werke wurden unter anderem auf Festivals wie Musikprotokoll (AT), La Biennale di Venezia (IT), Audio Art (PL) und Time Canvas (BE) sowie an Orten wie dem Kunstpalast Düsseldorf (DE), der Kunstsammlung NRW (DE), dem De Singel Arts Centre Antwerp (BE), und dem ZKM Karlsruhe (DE) aufgeführt.

Artikel von Leonie Strecker
Originalsprache: Deutsch
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